18. Juni 2025
Die Alte Oper trauert um Alfred Brendel
Ein Nachruf auf den wohl größten Charakterdarsteller an den Tasten, der am 17. Juni 2025 im Alter von 94 Jahren in seiner Wahlheimat London verstorben ist
Mozart, Beethoven, Schubert, Haydn – so sah das letzte Konzertprogramm von Alfred Brendel in der Alten Oper aus, als er sich 2008 als Gast der Frankfurter Bachkonzerte von seinem Frankfurter Publikum verabschiedete. Ein typisches, ein profundes Brendel-Programm. Zehn Mal wurde er beim Schlussapplaus zurück aufs Podium gerufen, drei Zugaben (Beethoven, Liszt und Busonis Bach), Ovationen im Stehen. Drei Wochen später dann folgte das endgültig letzte Konzert dieses Jahrhundertpianisten, im Dezember 2008 in Wien.
Jetzt ist Alfred Brendel gestorben, 94-jährig, ein Musiker, der Interpretationsgeschichte geschrieben hat. Er stand wie kein zweiter für den wissenden Pianisten, sein so absolut und objektiv wirkendes Spiel machte den 1931 in Mähren geborenen Brendel zum Inbegriff des geistvollen Musikers. Und des Anwalts für das Werk, hinter dem der Interpret auch mal zurücktritt. „Rausch allein erzeugt kein Kunstwerk, erst Kontrolle und Überlegung machen es dazu“ – dies eine der Grundüberzeugungen Brendels.
Wir können uns glücklich schätzen, dass Alfred Brendel zu den festen Größen unserer Saison-Spielpläne gehört hat, von Anbeginn an. Seit 1981 saß er nicht weniger als 40 Mal in der Alten Oper am Klavier – „das versierte Brendel-Publikum des Vereins Bachkonzerte“, wie es in der Rezension der Frankfurter Rundschau zu seinem letzten Konzert hier hieß, „bekam meist Überirdisches“. Unvergessen sein großer Schubert-Zyklus 1987, Brendel durfte als der wichtigste Schubert-Interpret seiner Zeit gelten. Im September 2001, anlässlich seines 70. Geburtstags, kam er im Rahmen eines „Interpretenportraits“ gleich für vier Abende zu uns, in der Saison 2003/04 spielte er gemeinsam mit seinem Sohn Adrian Brendel die Beethoven-Sonaten für Violoncello und Klavier. Alfred Brendel seinerseits wusste die Alte Oper und ihre Akustik zu schätzen, sonst hätte er nicht 1998 einen Live-Mitschnitt der G-Dur-Klaviersonate D 894 von Franz Schubert zur Veröffentlichung auf CD freigegeben.
Auch nach seinem offiziellen Abschied als Konzertpianist beehrte der vielseitig versierte Künstler uns noch ein weiteres Mal: 2011 lud Alfred Brendel in eine „Schule des Hörens“ ein und hielt einen Vortrag mit Musikbeispielen aus Beethovens Klaviersonaten zum Thema „Charakter in der Musik“. In der musikalischen Interpretation, so Brendels Forderung, müsse das Eingehen auf den Charakter, die Atmosphäre, die Affekte eines Stückes ebenso viel Beachtung finden wie das Wissen um Strukturen und Formen. „Die Annahme, die Struktur eines Werkes gebe automatisch dessen Charakter preis, ist ein Irrtum“, so der Pianist. „Die Aufgabe des Pianisten rückt so in die Nähe jener von Schauspielern“, wobei man ihn selbst dann als einen ultimativen Charakterdarsteller am Klavier bezeichnen muss. Vor diesem wohl größten Charakterdarsteller an den Tasten verneigt sich die Alte Oper Frankfurt.